Wildcard-Konzept: Gedanken zu „The Lydian Chromatic Concept“

Essays

(Erstveröffentlichung am 22. Oktober 1999)

Der Nutzen, der sich für Komponisten aus der Beschäftigung mit verschiedenen systematischen Musiktheorien ergibt, liegt darin, dass sie beim Komponieren ein Koordinatensystem – eine Art Maßstab – für ihre musikalischen Vorstellungen erhalten. Umgekehrt lässt sich sagen, dass eine systematische Musiktheorie (im Sinne einer Kompositionslehre) im Grunde nichts anderes ist als die Tendenz der musikalischen Vorstellungskraft ihres Urhebers, die zu einem System erhoben wurde.

Wenn man sich nun diesem Buch, dem Lydian Chromatic Concept, nähert, ist es meiner Meinung nach notwendig, das eigene Bewusstsein neu auszurichten. Das Buch ist nämlich nicht nur als theoretisches Werk, sondern auch als „Aufklärungsschrift“ zu verstehen.

Wer versucht, nach der Lektüre dieses Buches konkrete Musik zu schaffen, wird feststellen, dass dies äußerst schwierig ist. Zwar existiert auch hier ein geschlossenes Gesetzessystem, doch die Klangwelt, die sich daraus ableitet, ist allzu frei. Kaum wird eine Methode vorgestellt, wird sie durch nachfolgende Erklärungen so flexibel erweitert, dass die Methode selbst beinahe aufgehoben wird. Beim Weiterlesen wird man von dieser Freiheit schier überwältigt.

Etwas spitz formuliert wirkt es, als wolle das Buch theoretisch beweisen, dass „man alle 12 Töne der gleichstufigen Stimmung frei verwenden darf“. Für den Komponisten ist jedoch nicht entscheidend, ob er alle 12 Töne verwenden darf, sondern wie er sie einsetzt, um einen musikalisch schönen (oder andersartigen) Ausdruck zu erzielen. Das „Ob“ ist also kaum das Problem. Es geht nicht um das „Können“, sondern um das „Wie“.

Hier zeigt sich der aufklärerische Charakter des Werkes. Ermutigt durch die Botschaft „Hier ist ein Konzept, nun geh und sei frei“, entstanden in der Jazzwelt vielfältige neue Musikformen. Dies ist ein direkter Erfolg dieser Aufklärung. Besonders verdienstvoll ist, dass es den Boden für das Konzept der „Modes“ bereitete. Wie manche Berühmtheiten sagen: „Jeder, der Modi verwendet, steht in Russells Schuld.“

Wie der Titel schon andeutet, will der Autor wohl weniger ein System (Theoriegebäude) als vielmehr ein Konzept (eine Vorstellung) vermitteln. Ausgehend von der lydischen Skala, die auf der Naturtonreihe basiert, präsentiert er eine Menge von Möglichkeiten musikalischen Materials. Darauf aufbauend analysiert er bestehende Werke und betont nachdrücklich, dass alle Musik innerhalb der gleichstufigen Stimmung in den Geltungsbereich dieses Konzepts fällt.

Als Analysemethode ist es enorm flexibel. Doch wenn es darum geht, aus diesem Konzept konkrete Werke zu schaffen, gerät man ins Stocken. Die tieferliegende Ursache dürfte sein, dass das musikalische Bild des Urhebers aus dem Konzept selbst nur schwer herauszuhören ist.

Bei der Zwölftontechnik oder der Modaltheorie spürt man die historische Ansammlung realer Werke oder die Ausrichtung eines musikalischen Bildes. Anders gesagt: Diese Theorien sind der Versuch, ein musikalisches Bild zu systematisieren, das der Urheber in seiner eigenen Sensibilität bereits hörte. Daher können andere dieses musikalische Bild als Koordinatensystem nutzen, um neue Musik zu schaffen.

Beim Lydian Chromatic Concept hingegen ist der Aspekt der Systematisierung eines musikalischen Bildes schwerer zu erkennen. Stattdessen spürt man eine Stärke, die versucht, die gesamte Musik der gleichstufigen Welt in sich aufzunehmen. Die Flexibilität der Analyse bezieht sich genau auf diesen Punkt.

Wenn dem so ist, sollte man diese Stärke als Analysewerkzeug nutzen. Begriffe wie „Tonal Gravity“ (tonale Schwerkraft) oder „Tonic Station“ lassen sich direkt in das musikalische Denken zurückführen. Man gewinnt dadurch sicher einen neuen Blickwinkel auf die Musik. Der Vorteil der Beschäftigung mit dem Lydian Chromatic Concept liegt also weniger darin, ein neues musikalisches Bild kennenzulernen, als vielmehr darin, eine neue musikalische Perspektive zu gewinnen.

Zum Schluss möchte ich ausdrücklich erwähnen, dass die Schriften von Motohiko Hamase eine große Rolle dabei gespielt haben, meine seit langem bestehenden Fragen und mein Problembewusstsein bezüglich dieses Buches zu konkretisieren.

Titel (Japanisch):『リディアン・クロマティック・コンセプト』
Autor: ジョージ ラッセル (著)
ISBN : 475493072X

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Profil      
Masaharu

Japanischer Komponist. Auf der Grundlage von Jazz und Klassik komponiert er experimentelle Crossover-Musik. Gestützt auf seine Erfahrung in der Komposition für Theater und Spiele, strebt er Musik mit erzählerischer und konstruktiver Schönheit an.